CORD MEIJERING COMPOSER

"No man ever steps in the same river twice" (Heraclitus)

Die Vorderwiese an der Wilden Sau

Cord Meijering: Die Vorderwiese an der Wilden Sau

Wenn die Menschen freilich von Schönheit sprechen, meinen sie, genaugenommen, nicht, wie es naheliegt, eine Eigenschaft, sondern eine Wirkung - kurzum, sie beziehen sich auf eben jene starke und reine Erhebung der Seele - nicht des Intellekts oder des Herzen - ... die sich durch die Betrachtung >des Schönen< einstellt. (Edgar Allan Poe, dt. von U. Wernicke)

Es gibt Orte, die Geschichten und Geschichte erzählen, - Orte, die durch Spuren des menschlichen Gestaltens und durch Spuren des Gebrauches der betrachtenden Seele viele Möglichkeiten zur Zerstreuung und Erhebung bieten. Als Beispiele seien die Darmstädter Mathildenhöhe, eine Installation von Joseph Beuys im Hessischen Landesmuseum oder auch ein herbstlich hergerichteter Stand einer Bäuerin oder eines Bauern auf dem Marktplatz mit seinen Blumen, Kürbisen und Äpfeln genannt.

Es gibt weiterhin Orte, die wie leere Gefäße sind, - bereit etwas in sich aufzunehmen.

Je nach Witterung verändert sich bei solchen Gefäßen der Raum. Er wird höher oder niedriger, enger oder weiter. Immer aber bleibt dieser Raum ein leerer Raum, bereit sich mit unseren denkenden Empfindungen zu füllen.

Das weithin ruhende Meer ist so ein Ort, der Obertongesang Tibetanischer Mönche, eine Hochebene in den Rocky Mountains, die hohe Nacht unter dem Brillantenhimmel der Sahel-Zone, das Darmstädter Oberfeld oder auch die Vorderwiese an der “Wilden Sau”.

Wenn Schönheit weniger eine Eigenschaft als eine Wirkung ist, so muss es ein ETWAS geben, das diese Wirkung erzeugt und einen JEMAND, der diese Wirkung empfängt. Dies gilt jedenfalls für die Orte, die unsere Fantasie durch ein ETWAS erregen.

Weniger gilt dies für Orte, die uns durch ihr NICHTS dazu einladen, den angebotenen Raum mit unseren Gedanken zu erfüllen.

Die Höhe des Himmels beeinflusst das Befinden:

Wenige transparente Wolkentücher, die hoch am Himmel hängen und die sich mit den Kondensstreifen der Flugzeuge, den “Narben des Himmels” kreuzen, färben den großen blauen Raum. Das Innerste des einen Betrachters gleicht sich diesem Raum an, weitet sich und erfüllt sich mit glücklichem Empfinden. Das Innerste des anderen erfährt angesichts der ungeheuren Weite sein Verlorensein im Universum und wird erfüllt von großer Melancholie.

An trüben Tagen hängt der Himmel tief. Der zu erfüllende Raum zieht sich zusammen. Es wird enger auf der Welt und dunkler. Die “Seele” des Einen verfällt - wie Dante es schrieb - “in des Kleinmuts Banden, der häufig so des Menschen Geist bedroht”. Für die Seele des Anderen veringert sich der lähmende Gegensatz zwischen der Weite des Himmels und der Enge der eigenen inneren Müdigkeit, und sie gewinnt wieder an Mut und an Kraft.

Man erreicht die Vorderwiese, wenn man vom Vivarium kommend den Schnampelweg - entlang einer Laubenpieperkolonie - bis zu dem Ort spaziert, der den wandernden oder den Zeitung-lesenden Darmstädterinnen und Darmstädtern seit einigen Monaten als der Bahnhof Lichtwiese bekannt ist. Von dort aus erstreckt sich südwärts die Vorderwiese.


Ihr Raum ist auf der Ostseite begrenzt von der Odenwaldbahn, im Norden vom Böllenfalltorweg, im Süden und Westen vom ruhenden Wald der Steckertswiesenschneise.

Sie liegt nicht fern von der Stelle am Schnampelweg, der - der Legende nach - Matthias Claudius zu dem Gedicht “Der Mond ist aufgegangen” inspiriert haben soll.
Auch er hat diesen leeren Raum erfüllt:

Wie ist die Welt so stille und in der Dämm´rung Hülle so traulich und so hold ! Als eine stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt

Der Wandernde, der Nordic Walker, der Gassi-Gänger, der allmorgentlich diese ”stille Kammer” betritt und leider nicht immer spurlos wieder verlässt und der aufmerksam gegenüber seinen eigenen Stimmungen ist, wird es zunächst nicht bemerken, aber dann, wenn er nach vielen Wochen des Wanderns, Nordic Walkens und Gassi-Gehens sich der Beziehung zwischen der Höhe des Himmels und der Weite der inneren Empfindung plötzlich bewusst wird, dann wird er bemerken, dass der Raum, den die Vorderwiese ihren Besucherinnen und Besuchern bietet, auf dem Wege der Einbildungskraft zu seinem eigenen Körper wird, bereit sich mit allem zu füllen, mit Lust, mit Ruhe, mit Aufregung, mit Trübseligkeiten, mit Liebe und Tod, mit Hässlichkeiten und mit der Wirkung des Schönen.

Nur mit einem wollte sich diese Vorderwiese für lange Zeit nicht füllen: mit Kindern.

Vielleicht liegt das an den zahlreichen Gassig-Gängern mit ihren vierbeinigen Lieblingen, die tagaus und tagein die Dosennahrung ihrer letztendlichen Bestimmung zuführen. In Großbritannien, wo eine Grünfläche ein Symbol nationaler Kultur darstellt, ist es undenkbar auf dieser seine Notdurft zurückzulassen. Hierzulande ist man da großzügiger.

Allerdings, so wie ein Biologe beim Entdecken einer Art auf die Präsenz oder Abwesenheit einer anderen Art oder auf bestimmte Witterungsverhältnisse schließen kann, so können auch wir neuerdings Anzeichen dafür finden, dass sich im Bewusstsein der Gassigänger auf der Vorderwiese etwas verändert hat:

Es gibt dort einen Waldspielplatz, der sich an der Steckertswiesenschneise im Schutze der Bäume nahe des Flurstücks der Wilden Sau befindet. Seit einiger Zeit trauen sich die Kinder wieder etwas heraus. Sie haben am südwestlichen Rand der Wiese ein Holzhaus gebaut, sicherheitshalber aber noch auf hohen Stelzen.

Es wäre schön, wenn sich zuguterletzt der große Raum der Vorderwiese auch mit der Zukunft der Kinder erfüllen würde.