CORD MEIJERING COMPOSER

"No man ever steps in the same river twice" (Heraclitus)

Stigma Doppelmörder

Am 17. Dezember 2019 stand Jens Söring auf dem Frankfurter Flughafen und erklärte in die Mikrofone, „dies ist der schönste Tag meines Lebens“. Der Mann durfte sich gerade das erste Mal seit dem 30. April 1986 frei bewegen. Die Zeit dazwischen hatte der heute 55-Jährige im Gefängnis verbracht. „Rückkehr ins Leben - Mein erstes Jahr in Freiheit nach 33 Jahren Haft“, lautet der Titel des neuen Buchs von Jens Söring.

Selten landet jemand in einem Flieger aus den USA so abgerissen gekleidet wie damals Jens Söring. „Ich besitze eine Brille, einen grauen Jogginganzug, ein Paar weiße Turnschuhe, braune Stiefel ohne Schnürsenkel, 53 Dollar in bar und meine Freiheit. Ich bin ein reicher Mann“, beschreibt er den Moment, den die Kameras einfingen.

Wäre das Leben des einstigen Hochbegabtenstipendiaten der Universität von Virginia so verlaufen, wie sein Umfeld und er selbst es einmal erwarteten, hätte Söring im gesetzten Alter nach einem Interkontinentalflug wohl im Maßanzug die Gangway verlassen, um der Hochzeitsfeier einer Tochter aus erster Ehe beizuwohnen oder als Manager eine Fusion zu verhandeln. Aber einen Mann, der als 19-jähriger einfuhr und mit 53 rauskam, dem stellt niemand mehr eine Karriereleiter vor die Füße, egal, ob er als hochbegabt gilt.

Schreiben kann eine Option sein, Hartz IV zu entkommen. Söring nutzt die. Im Gefängnis veröffentlichte er bereits mehrere Bücher, wie etwa jenes, das der Verlag kurz vor seiner Entlassung neu auflegte: „Nicht schuldig! – 33 Jahre US-Haft für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe.“

Söring interessierte sich schon als Jugendlicher für Literatur, was wohl zur Tragik seines Lebens beitrug. Mehrfach erklärte er, sein Vorbild sei die Figur des Sydney Carton aus Charles Dickens Roman „A Tale of Two Cities“ gewesen. Sydney liebt die verheiratete Lucie und opfert sich für deren Mann Charles. Anstatt seiner, legt sich Sydney unters Fallbeil.

Söring gestand nach seiner Festnahme am 30. April 1986 in London zwei Tötungsdelikte, die sich am 30. März 1985 in Virginia ereignet hatten. Im Prozess in den USA widerrief er. Mit einem falschen Geständnis habe er seine Freundin, die von einem von ihr an ihren Eltern begangenen Mord erzählt habe, vor dem elektrischen Stuhl bewahren wollen. Als Sohn eines Diplomaten mit dem blauen Pass in der Tasche sei er davon ausgegangen, an die Bundesrepublik überstellt und dort zu einer Jugendstrafe von maximal zehn Jahren verurteilt zu werden. Was er nicht gewusst habe: wäre sein Vater an der Botschaft in Washington beschäftigt gewesen, hätte der Plan funktioniert. Weil der statt dessen seiner Arbeit im Generalkonsulat von Virginia nachging, entfiel die Immunität für den Filius.

Trotz vieler Ungereimtheiten verurteilte 1990 ein Gericht in Virginia den zur Tatzeit 18-Jährigen zu zweimal lebenslänglicher Haft. Gerne hätte man den Deutschen hingerichtet, doch Großbritannien hatte Söring nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur gegen die Zusage der Amerikaner ausliefern dürfen, keine Todesstrafe zu vollstrecken.

Mehr verwertbare Beweise als sein Geständnis gab es nicht wirklich. Zwei fremde Blutspuren fanden sich damals am Tatort. Eine deckte sich mit der von Söring, ebenso wie mit der von 46 Prozent aller US-Amerikaner. Erst 2016 kam es zu einem DNA-Abgleich. Das Ergebnis stützte Sörings Erklärung, das Ehepaar nicht getötet zu haben. Es sollte drei weitere Jahre dauern, bis der Gouverneur von Virginia ihn mit dem Makel „zur Bewährung“ begnadigte. Juristisch gilt Söring weiter als schuldig.

In den USA und in Deutschland hatte sich in den Jahren zuvor ein Unterstützerkreis gebildet, dem etwa ein ehemaliger Polizist angehörte, der damals in seinem Fall ermittelt hatte oder auch Christian Wulff, der sich bereits als Bundespräsident für Söring einsetzte.

Mit dem Tag seiner „Rückkehr ins Leben“ nimmt der Autor wahr, „wie unsicher mich selbst trivialste Erlebnisse machen“. So beschreibt er seine anfängliche Angst vor „Winnifred, dem kleinen Bullterrier der Familie, die mich aufgenommen hat“. Ihn ängstigt die Hündin, die ihn schwanzwedelnd begrüßt, „Winnis raue Zunge auf meiner Haut ließ mich fürchten, dass sie mich in jedem Moment beißen könnte“.

Söring erzählt von seinen Erfahrungen mit Vierbeinern im Gefängnis, wie etwa beim Duschen: „So stand ich fünf Minuten nackt unter dem strömenden Wasser, während ein Wachhund in weniger als einem Meter Abstand ununterbrochen bedrohlich bellte und wild an der Leine zerrte.“

Was ihn in Deutschland an Skepsis erwartete, bekam Söring von Unterstützern während seiner Tage in der Auslieferungshaft vorgelesen. Drei Wochen vor seiner Entlassung schrieb ein gewisser Andrew Hammel in einem Gastbeitrag in der FAZ: „Jens Söring ist zweifelsfrei schuldig.“ Wie der bis dahin unbekannte ehemalige US-Strafverteidiger argumentiert, klingt plausibel, wenn er etwa ausführt, „falsche Geständnisse werden in der Regel von Menschen mit psychischen Störungen oder verminderter Intelligenz abgelegt“. Das treffe auf den damals 19-jährigen hochintelligenten Söring keinesfalls zu, der habe „alle rechtsstaatlichen Warnungen erhalten, wurde niemals bedroht oder missbraucht und gestand nachweislich aus freien Stücken“.

Das stimmt. Aber mancher, der Sörings Erklärung für sein Geständnis hört, erinnert sich an die eigenen ersten sinnlichen Erfahrungen. Zumindest in homöopathischen Dosen können viele nachvollziehen, was Söring bewegt haben könnte, unschuldig zwei Morde zu gestehen. Mit der zwei Jahre älteren, hübschen und charismatischen Kommilitonin Elizabeth Haysom wollte an der Uni so ziemlich jeder Kerl etwas anfangen. Aber ausgerechnet der bis dahin jungfräuliche Typ mit den dicken Brillengläsern landete bei ihr. Aufgrund eigener Erfahrungswerte kann Hammel Sörings benanntes Motiv, er habe seine Freundin vor dem Tod bewahren wollen, offensichtlich nicht nachfühlen. Der Amerikaner will aber auch nicht spekulieren, was den blitzgescheiten Teenager ansonsten geritten haben könnte, ein Geständnis abzulegen, statt einfach die Klappe zu halten.

Söring schreibt, „solange ich den letztendlichen Beweis meiner Unschuld nicht bringen kann, wäre es journalistisch unseriös, zu behaupten, ich sei zweifelsfrei unschuldig“. Der Autor folgert, zu formulieren, „ich sei zweifelsfrei schuldig, ist ebenso illegitim“.

Laut Gerichtsurteil soll Söring Derek und Nancy Haysom, den Eltern seiner Freundin, in deren Haus „die Kehlen durchtrennt und dutzende Male auf sie eingestochen“ haben. „Nach der Tat soll ich dann blutüberströmt und nur in ein Bettlaken gehüllt, [im Auto] ins Hotel zurückgekehrt sein,“ notiert Söring, um ein paar Seiten später auszuführen, auf den Sitzen des Mietwagens hätten Ermittler „selbst mit Luminol nicht das kleinste bisschen Blut“ nachgewiesen. Der frühere Häftling übt sich nicht in der Attitüde, 'mir ist es egal, was die Leute über mich denken'. Söring will möglichst jeden von seiner Unschuld überzeugen.

Andrew Hammel schrieb damals antizyklisch. Bis zu seinem FAZ-Artikel herrschte die mediale Stimmung, „ein Unschuldiger kommt frei“. Die Bild-Zeitung beobachtete dann an Sörings erstem Tag in Freiheit: „Im Jogginganzug lässt sich der Doppelmörder durch Hamburg fahren.“

Der Ex-Anwalt scheint sein Lebensthema gefunden zu haben. Vor kurzem veröffentlichte Hammel in der Berliner Zeitung einen Text mit der esoterisch anmutenden Überschrift: „Jens Söring wird erst wirklich frei sein, wenn er zugibt, ein Mörder zu sein.“

Wenn Hammel einen existenziellen Geldbetrag auf die richtige Antwort der Frage wetten müsste, „war es Söring oder nicht?“, so wägte der Mann vielleicht neu ab, ob er auf „Jens Söring ist zweifelsfrei schuldig“, tatsächlich setzen sollte. Söring schreibt in seinem Buch, Hammel habe niemals versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen.

Die Angst vor der Hündin seiner Hamburger Gastfamilie verliert Söring mit der Zeit. Obwohl er weiß, dass Winnifred wie immer einen Hüftschaden simuliert, wenn sie keine Lust auf einen Spaziergang verspürt, „überkommt mich das Mitleid und wir drehen um“. Daraufhin rast der gerade noch schwer gehandicapte Hund in Rekordzeit die Treppe hinauf. Söring resümiert: „33 Jahre lang habe ich unter den schlimmsten Verbrechern mein Gesicht bewahrt, und nun hält mich ein Terrier mit Dackelblick zum Narren.“