CORD MEIJERING COMPOSER

"No man ever steps in the same river twice" (Heraclitus)

500 Jahre Evangelische Kirchenmusik - Eine Erfolgsgeschichte?

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich danke Herrn Gemeinhardt sehr herzlich für die freundliche Einladung, die er auf die Empfehlung des ehemaligen Hessischen Staatssekretärs im Ministerium für Wissenschaft Herrn Prof. Dr. Leonhard an mich ausgesprochen hat um zu Ihnen an diesem Tag und an dieser Stelle zu sprechen.

Als Herr Gemeinhardt mich fragte, ob ich bereit sei einen Vortrag über das Thema "500 Jahre Evangelische Kirchenmusik - eine Erfolgsgeschichte" für Sie zu halten, meldete in mir spontan sich eine Stimme, die darum bat, diesem Thema ein Fragezeichen anhängen zu dürfen. Warum sich diese Stimme meldete, war mir nicht unmittelbar klar, aber ich spürte die Gewissheit, das nur dieses Fragezeichen all das zutage fördern würde, worum es mir bei diesem Thema gehen könnte. Glücklicherweise war Herr Gemeinhardt nicht nur einverstanden, sondern ermunterte mich meine eigene Sicht der Dinge - sozusagen als eine mögliche Sicht von Außen - zur Darstellung zu bringen. Und so steht - für mich glücklicherweise - am Ende dieses Themas nun ein Fragezeichen.

Und wo erstmal eine Frage auftaucht, da folgen ihr bekanntermaßen viele Fragen direkt auf den Fuß:

z.B.

Warum fragt man zu diesem Thema, das doch eine Historische Abhandlung provoziert, zwecks Erhalt einer Sicht von Außen ausgerechnet einen Komponisten anstatt einen historisch sicherlich fundierter ausgebildeten Musikwissenschaftler?

oder:

Was ist hier unter "Evangelisch" zu verstehen? Sollte man nicht lieber "Protestantisch" sagen?

oder:

Verhalten sich die beiden Begriffe "Evangelisch" und "Kirchenmusik zueinander nicht kontradiktionär?

oder:

Wäre "Evangelisch" in diesem Zusammenhang vielleicht besser als "Lutherisch" zu bezeichnen? Dann wäre es eine Ortsbestimmung im ökumenischen Spannungsfeld zwischen Katholizismus und Protestantismus, mit der sich die Kirchenmusik sicherlich leichter zuordnen ließe.

oder:

Kann man von einer Evangelischen Kirchenmusik sprechen ohne sie ins Verhältnis zur Katholischen Kirchenmusik zu stellen?

oder:

Warum macht der Mensch Musik?

Und dann ist da auch noch über den Erfolg dieser Kirchenmusik zu reden. Geht das für mich überhaupt ohne dabei allzu sehr ins Provokative abzugleiten?

etc. etc.

So jagt nun eine Frage die nächste...

Im Laufe des Nachdenkens über unser heutiges Thema, das - wie Sie sehen - bereits von einem Thema zu einer Frage mutierte, verwandelte sich eben diese Frage unmerklich weiter in ein hochkomplexes Netzwerk aus Fragen. Im Laufe des darauf folgenden Nachdenkens verwandelte sich eben dieser Fragenkomplex wiederum unmerklich in einen schwer zu bewältigenden Aufgabenkomplex für die heutige Evangelische Kirche.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, anstatt Ihnen einen historischen Abriss der Evangelischen Kirchenmusik zu erzählen, was Viele von Ihnen oder auch ein Musikwissenschaftler viel kompetenter bewerkstelligen könnte als ich, möchte ich Sie dazu einladen, mit mir einen geistigen Spaziergang zu machen, der uns scheinbar ziel- und absichtslos durch ein Labyrinth aus historischen Ereignissen, autobiographischen Erlebnissen, musikphilosophischen Fragestellungen und daraus entstehenden Aufgaben führen wird. Ich habe mich entschieden, Ihnen eine ganz persönliche Sicht der Dinge anzubieten, die weder Objektivität noch Vollständigkeit für sich beansprucht. Wenn ich dann und wann sehr pointiert argumentieren werde, vielleicht auch scharf provozierend, so nehmen Sie dies bitte nicht als Ausdruck einer Angriffslust, sondern als Ausdruck meines leidenschaftlichen Interesses an dieser Thematik.

Es würde mich freuen, wenn die Gemeinschaft unserer heutigen Versammlung sich dadurch zu einer regen Diskussion inspirieren ließe, und wenn jede und jeder von uns anschließend innerlich die vielen entstehenden Fragen und Aufgaben weiter im Innern bewegen würde, so wie man nach einem schönen Konzerterlebnis die einprägsamsten Melodien noch absichtslos und beinahe wie von selbst auf dem Heimweg vor-sich-hin-summt.

Damit Sie wissen, wer diese Einladung an Sie ausspricht, möchte ich mich bei Ihnen vorstellen. Aufgrund der Beziehung meiner Biografie zu unserer heutigen Thematik wird dies ausführlicher geschehen, als es der Anstand gewöhnlich gebietet. Ich habe mich aber bemüht, Ihnen nur die biografischen Dinge mitzuteilen, die als Geschichten genommen selbstständig stehen können, sinnbildlich für ein Spannungsfeld, in dem sich unser heutiges Thema bewegt. Der Aufrichtigkeit halber sage ich Ihnen, dass ich dies selbst erlebt habe. Das ist aber unerheblich. Man könnte einen anderen Namen einsetzen.

Mein Name ist Cord Meijering. Ich bin Komponist und Direktor der Akademie für Tonkunst in Darmstadt. Ich habe die Niederländische Nationalität, bin jedoch in Esens/Ostfriesland, also in Deutschland, geboren und aufgewachsen. Ich bin protestantisch getauft und von meinen lieben Eltern in äußerst toleranter Weise protestantisch erzogen worden. Der Familienrat inklusive meiner Person verwarf den Gedanken, mich als Vierzehnjährigen für religionsmündig erklären zu lassen. Von diesem Beschluss beflügelt, wurde die Konfirmation im Gegensatz zur Kommunion (die ohne das Attribut der Religionsmündigkeit auskommt) als der trickreiche Versuch enttarnt, einen Geschäftsabschluss mit Minderjährigen zu machen. Aus dem Verzicht auf die Konfirmation resultierten wöchentliche Streitgespräche mit dem Pfarrer der Burgenstadt Schlitz in Oberhessen. Meine Absenz war seinem wachsamen Auge nicht unbemerkt geblieben, war er doch gleichzeitig Religionslehrer an der Staatlichen Schule, an der mein pubertierender Revoluzzergeist ihn wegen mangelnder Trennung von Kirche und Staat für vollkommen deplatziert hielt. Die Tatsache, dass ich in meiner damaligen Klasse als Nicht-Konfirmand der Einzige war, der sich am Unterricht beteiligte - wenn auch nur streitend - während alle Konfirmandinnen und Konfirmanden desinteressiert Schiffe-Versenken spielten, brachte den Pfarrer am Schuljahresende in die missliche Lage, die Leistungen des Nicht- Konfirmanden - der zudem nicht überzeugt werden konnte - im Zusammenhang mit der Notengebung deutlich positiver honorieren zu müssen als die Leistungen der, wie sich zeigte, bis dahin erfolgreich aus der Kirche heraus konfirmierten Mitschülerinnen und Mitschüler. Ich wurde also nie Mitglied der Evangelischen Kirchengemeinde, eine Tatsache, welche die für den heutigen Vortrag gewünschte und somit zu gewährleistende Außenperspektive erleichtert.

Erwähnenswert ist vielleicht noch die Tatsache, dass ich in den frühen Achtziger Jahren für etwas mehr als vier Jahre in Trier lebte und mich da - als ich meinen Gehaltszettel, der aus Mangel an Trennung von Kirche und Staat die Kirchensteuer ausweist, feststellte, dass ich ohne es bemerkt zu haben, katholisch geworden war. Als ich beim Finanzamt nachfragte, warum das geschehen sei, teilte man mir mit, dass in Trier doch alle katholisch seien und so sicher auch ich. Als ich fragte, wie man das Problem beheben könne, riet man mir, doch aus der katholischen Kirche auszutreten. Ich war ratlos, bat aber darum, dass man doch fernerhin auf das Abziehen der Kirchensteuer verzichten möge. Da mir dieser Wunsch erfüllt wurde, stellte ich mir nicht länger die Frage, ob ich eigentlich immer noch katholisch sei oder nicht. Ich weiß es bis heute nicht, glaube es aber nicht wirklich.

Somit gehöre ich in meiner persönlichen Vorstellung keiner Kirche an, sympathisiere mit vielen Gedanken aus verschiedenen Religionen dieser Welt. Atheist bin ich nicht geworden. Das war mir wahrscheinlich zu anstrengend, spätestens nachdem ich den Aufsatz über den Atheismus des mexikanischen Dichters und Essayisten Octavio Paz gelesen hatte. Atheismus ist nach meiner Ansicht vielleicht die höchste Religion der Welt, derer nur Wenige - keinesfalls ich - geistig entsprechen können. Der spanische Dichter Unamuno formuliert in seiner Erzählung San Manuel, Märtyrer, die gewagte These, dass die einzigen wirklichen Atheisten die Heiligen der katholischen Kirche seien, da sie sonst keinen Grund gehabt hätten, Gott mit solcher Inbrunst zu suchen.

Auch passt der Atheismus nicht zu meinem Selbstverständnis als Komponist, der die Inspiration als eine zentrale Kategorie seines nahezu täglichen Komponierens wahrnimmt und erlebt.

Hedonistisch veranlagt entschied ich mich dazu, mich meinen Mitmenschen zukünftig als einen Menschen vorzustellen, der die Spiritualität im Leben und im Komponieren als eine der größten Freuden ansieht.

Falls Sie meiner Einladung zu besagter Wanderung nach dem soeben Berichteten noch Folge leisten möchten, so führt uns die Freude an der Spiritualität zu unserer ersten Frage:

Was bedeutet der Vorgang des Komponierens von Musik?

Der spirituelle Mensch ohne Religionsgemeinschaft wie auch der sich einer Religionsgemeinschaft zugehörig fühlende und der Spiritualität sich öffnende Mensch werden sich da rasch einigen können:

Der Vorgang des Komponierens, wie auch jede andere künstlerische Tätigkeit ist ein kreativer Vorgang und damit eine Nachahmung des Schöpfungsaktes.

Die Kreation wird dabei unmittelbar erlebt, als eine gewaltige Kraft, die sich weithin unserer Kontrolle entzieht aber unser bedarf zu ihrer Manifestierung im musikalischen Raum soweit dieser dem Menschen wahrnehmbar ist.

Wer in der Bibel die Genesis in dieser ihrer kreativen Urgewalt erleben will, dem empfehle ich für einen Moment die Deutsche Einheitsübersetzung beiseite zu legen und die Übersetzung des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber aufzuschlagen. Ich zitiere zum Vergleich den Beginn der Genesis aus der Luther- und danach denselben Ausschnitt aus der Buber Übersetzung:

Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, herausgegeben durch die Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart, revidierte Fassung 1984:

(bitte achten sie auf die Häufigkeit, in der das poetisch im Deutschen wenig Sinn tragende, weil kein Imago auslösende, Wort "und" verwendet wird)

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe;
und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.
Und Gott sprach: Es werde Licht!
Und es ward Licht.

Und Gott sah, dass das Licht gut war.
Da schied Gott das Licht von der Finsternis
und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.
Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.
Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern,
die da scheide zwischen den Wassern.
Da machte Gott die Feste und schied das Wasser
unter der Feste von dem Wasser über der Feste.
Und es geschah so.

Und Gott nannte die Feste Himmel.
Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag.

2. Die Buber-Übersetzung:

Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.

Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal.
Finsternis über Urwirbels Antlitz.
Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser.
Gott sprach: Licht werde! Licht ward.Gott sah das Licht: daß es gut ist.
Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis.
Gott rief dem Licht: Tag! und der Finsternis rief er: Nacht!
Abend ward und Morgen ward: Ein Tag.

Gott sprach:
Gewölb werde inmitten der Wasser
und sei Scheide von Wasser und Wasser!
Gott machte das Gewölb
und schied zwischen dem Wasser,
das unterhalb des Gewölbs war
und dem Wasser, das oberhalb des Gewölbs war.
Es ward so.
Dem Gewölb rief Gott: Himmel!
Abend ward und Morgen ward: zweiter Tag.

Berichts-Prosa versus Zelebration und Fühlbarmachung des Kreationsaktes. Wie vermittelt sich in diesen beiden Fällen der Gedanke, der nach Thomas Mann nur dann das Glück des Schriftstellers ist, wenn er ganz Gefühl zu werden vermag., wenn die Gedanken beginnen zu empfinden und die Empfindungen zu denken beginnen. Im Lutherischen Beispiel stellt sich ein Bericht dar, zu dem man sich distanziert eine Meinung bilden kann. Das zweite Beispiel zieht einen in seinen Bann. Die Faszination der Inspiration lässt einem keinen Ausweg. Es geht nicht um Verstehen im kausalen Sinne, sondern um Verstehen durch Erleben, anders ausgedrückt um evangelisch oder katholisch oder wie in diesem Fall jüdisch.

Lassen Sie mich - um präzise, weil anschaulich zu werden - etwas anekdotisch fortfahren:

Eine versierte und äußerst musikalische Chorleiterin leitete - nach der Devise: Aller guten Dinge sind Drei - drei Chöre: einen weltlichen gemischten Gesangsverein, einen katholischen und einen evangelischen Kirchenchor. Es wurde Weihnachten, eines der höchsten christlichen Feiertage näherte sich. Der weltliche Gesangsverein dankte für die im vergangenen Jahr geleistete Arbeit und die dadurch entstandene Freude begeistert mit einem großen Präsentkorb, gefüllt mit allerlei Lustbarkeiten, außerdem mit einem großen Blumenstrauß (dem Symbol der Vergänglichkeit) und mit einem dreizehnten Monatsgehalt. Der katholische Kirchenchor dankte der sich stets hingebenden Chorleiterin anlässlich der christlichen Feier ihre Leidenschaft mit einem Blumenstrauß (dem Symbol der Vergänglichkeit) und einem dreizehnten Monatsgehalt. Der evangelische Kirchenchor dankte mit zwei Tüten Aldi-Tee und drei selbstgebastelten Strohsternen. Welcher Dank war der größere? Im idealistischen Sinne natürlich der Letzte, da die Strohsterne selbst gebastelt wurden. Im haptischen Sinne aber, war es der erste und vielleicht auch der zweite. Das wäre intellektuell leicht zu verargumentieren, wäre da nicht die den Menschen stets bedrohende Gefahr, dass Gutes durch Übermaß in sein Gegenteil umschlägt, dass Sparsamkeit sich zu verkrampfender Unerfülltheit steigert und dabei sich als wahres Glück in der Enthaltsamkeit tarnt. Die Haltung, die voller Innbrunst sich in die Mission stürzt um damit die Begegnung mit dem eigenen Ich ein wenig hinauszuzögern sucht. Wir berühren sanft die Geschichte des Marquis de Sade: Justine, oder vom Missgeschick der Tugend.

Wir berühren die Fragen: Wodurch wird der Mensch berührt? Was gibt er vor zu denken? Was beabsichtigt er zu tun?

Verehrtes Auditorium, bezüglich der Behandlung der Musik in der evangelischen Kirche, kann ich als ein an der Spiritualität sich ergötzender Mensch nicht evangelisch, schon gar nicht protestantisch sein. Da gibt es nur das Katholische, da es den einzigen Raum im christlichen Gelände markiert, der eine raumfüllende Inspiration zulässt.

Warum ich das denke?

Es war irgendwann in den 80-iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Im "Trierischen Volksfreund" - landläufig genannt: "Tierischer Volksfeind", dem einzigen Magazin der Region war eine Neujahrsmesse zur Mitternacht angekündigt, die in mittelalterlicher Weise über mehrere Stunden hinweg in ausschließlich gesungener Manier zelebriert werden sollte. Als musikalisch begeisterter Mensch, der soeben vom Finanzamt der Römerstadt Trier in den Schoß der katholischen Kirche katapultiert worden war, entschloss ich mich, dieses - wie ich heute weiß - Jahrhunderterlebnis zu besuchen. Was geschah an diesem Ort? Was geschah mit mir? Wenn ich sage "mit mir", dann meine ich den Komponisten, der die Inspiration als wesentliche Kategorie seines Denkens wahrnimmt und der "Erlebnis durch Dabei-Sein" der Erläuterung, dem "Erzählen statt Erleben von Musik" vorzieht.

Ich betrat den Dom zu Trier.

Der Gesang hob an, wurde zelebriert über mehrere Stunden hinweg. Der Raum des Doms erfüllte sich mit inspirierter und inspirierender Geistlichkeit. Ich fürchtete, dass die Mauern ob dieser inspirativen Kraft bersten würden.

Woher stammen diese ornamental dahinfließenden mich in einen solchen meditativen Zustand versetzenden Melodien? Welcher Kultur war ich soeben begegnet? Mir lag damals der Satz auf der Seele: "Würdet Ihr immer so den Gottesdienst zelebrieren, dann wäre ich auch immer dabei". Ich fühlte mich damals regelrecht von der heutigen Kirche verraten, weil um die Fortsetzung dieses mich tief bewegenden Erlebnisses gebracht. In der dann folgenden Zeit begann ich die Musik des Mittelalters über mehrere Jahre hinweg zu studieren, verbrachte viele Stunden meines Lebens dazu nicht im Trierer Dom, sondern in der Bibliothek der Stadt Trier. Der Leiter, Dr. Bissels, ein hochgebildeter Mann wurde mir zum Rettungsanker in den Gefilden der Fernleihe, der scheinbar unauffindbaren Manuskripte und so fort. Ich lernte damals, dass Vieles von dieser Musik - wie Sie selbstverständlich wissen - kleinasiatischen Ursprungs ist. Während der Missionsreisen fanden die Melodien über das sogenannte Parodie-Verfahren Eingang in die Katholische Kirchenmusik des Mittelalters. Ich möchte dies im Einzelnen nicht ausführen. Unüberhörbar ist jedenfalls die klangliche Verwandtschaft mit arabischer und griechischer Gesangs-Tradition.

Die Zentral-Tönigkeit sowie die ausladenden Rezitations-Töne, ihr Atmen, machen diese Musik zur vollkommenen Auslöserin einer religiös meditativen Extase. Vergleicht man sie zum Beispiel mit den Obertongesängen der Tibetanischen Mönche, so scheint es auf den ersten Eindruck hin Ähnlichkeiten in der Funktion dieser beiden Gesangsformen zu geben. Beide scheinen auf den Weg in die Tiefe der religiösen Empfindung zu führen. Betrachtet man dies jedoch genauer, so ist zu erkennen, dass es sich bei den tibetischen Gesängen um reine Klangproduktion handelt, die den Geist, Körper und Raum erfüllt. Der Begriff "Musik" ist darauf nicht anwendbar, da Musik für einen buddhistischen Mönch - wie der Dalai Lama höchstpersönlich nach einer Aufführung von Händels Messias bemerkte - bedeutungslos ist, weil sie von dem handelt, was ein buddhistischer Mönch überwinden möchte: den menschlichen Leidenschaften. Die einzigartige Leistung der Gregorianik liegt in der ausladenden, oftmals symphonisch anmutenden, in Kontraktion und Lösung sich bewegenden atmenden Weltseele. Zwischen extatischer Anrufung, dem orientalisch hochornamentalem Halleluja und dem schmucklos innigen Sanctus entwickeln sich die Klangräume anderer Messeteile, die alle ihren eigenen Ausdruck fanden.

Wichtig für die Ortsbestimmung der protestantischen Musik ist, zu erkennen, dass die Funktion dieser großartigen katholischen Klanggebäude in erster Linie in der Erlebbarmachung des Schöpfungsaktes durch Nachahmung liegt. Die Kraft der Kreation wird hierbei nicht erläutert, sie erläutert sich selbst durch ihre große klangliche Kraft.

Im Mittelalter war die avantgardistische Nachahmung auf allerhöchstem musikalischem Niveau ganz eine Sache des religiösen Ausdrucks der Kirche.

Die späterhin folgenden Vorgänge in Avignon führten dazu, dass diese Nachahmung der Genesis dem Monopol der Kirche entglitt. Mehr und mehr wurde das Komponieren von Musik auch eine Sache der weltlichen Fürstenhäuser Europas. Es ist aber festzustellen, dass die katholische Kirchenmusik über die ganze Renaissance hinweg immer noch zu den bedeutendsten Musiken unserer Welt gehört. Die zuvor oft anonymen Melurgen wandelten sich im Laufe des Spätmittelalters und der Renaissance zu bis heute bedeutenden und hochgerühmten Komponisten wie Dufay, Ockeghem, Josquin, Adrian Willaert, um nur Wenige zu nennen. Die Gotik mit ihren ausladenden Ornamenten führt unter kultureller Vorherrschaft Frankreichs die orientalische Verzierungskunst bis hinein in den französischen und dann auch deutschen Barock, sowohl in seinen geistlichen wie auch seinen weltlichen Musiken.

Im Barock, dem Zeitalter der Spannungen zwischen Absolutismus, Aufklärung und Gegenaufklärung mit Zentrum Paris gerät die katholische Kirchenmusik mehr und mehr unter Druck. Der theatralische Gestus der bischöflichen Gewänder und Zelebrationen finden ihre weltlichen Entsprechungen im Auftreten eines Louis Quatorze. Vom Sonnenkönig zum Sonnengott ist für die menschliche Anmaßung gedanklich nur ein kleiner Weg. Die Aufklärung wandte sich gegen all dies mit großer Vehemenz. Das Schicksal der katholischen Kirchenmusik war mit der Französischen Revolution besiegelt. Sie stürzte - begleitet vom schneidenden Fallgeräusch der Guillotine - zu Boden. Die Fallhöhe war enorm.

Dies alles muss man sehen um den Ansatz der protestantischen Musizierweise verstehen zu können.

Es ist Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass ich soeben das Wort Musik durch Musizierweise ersetzt habe. Der Grund erläutert sich später.

Als ein bedeutender Komponist ist hier natürlich Heinrich Schütz zu nennen. 1585 wurde er geboren, genau 100 Jahre vor Johann Sebastian Bach. Seine beiden bedeutenden Lehrer waren Giovanni Gabrieli und bei einem späteren Italienaufenthalt auch Claudio Monteverdi, beides katholische Komponisten. Zumindest für Monteverdi kann man sagen, dass er seinen Ruhm und seine Bedeutung in erster Linie seinen Leistungen im weltlichen Bereich der Musik verdankt. Er komponierte die erste bedeutende Oper Orfeo, die Geschichte über den griechischen Sänger Orpheus. Interessant ist, dass er dabei nicht David zu seinem Protagonisten erkor. Sein Wunderwerk, die Marienvesper, diente nicht aktueller kirchenmusikalischer Praxis sondern war ein Bewerbungsstück.

Somit versteht man, dass Heinrich Schütz seine musikalischen Grundlagen der italienischen Renaissance verdankte, die sich in zweien ihrer bedeutendsten Repräsentanten verkörperte. Seine Musik ist einem sehr alten Lieblingsthema der katholischen Kirchenführung verpflichtet, dem sich viele katholische Komponisten, denen es primär um die Fühlbarmachung der kreativen Kraft ging, aufs Trickreichste gegenüber ihrer Kirchenleitung widersetzten: der Unterordnung der kreativen Kraft unter die Verständlichkeit des Wortes. Das ist eine Forderung der katholischen Kirchenleitung, und die katholischen Komponisten wollten es oftmals nicht. In dieser Hinsicht ist Schütz ganz auf Seiten der mittelalterlichen katholischen Kirchenführung.

Heinrich Schütz komponierte auf einem sehr hohen Niveau - wie ich finde - nur eine Etage unterhalb von Monteverdi eine aus dem katholischen Kulturraum übernommene weltliche Musik mit geistlichen Texten. In jedem Fall war er kein Komponist, der wie Perotinus oder Leoninus ausschließlich geistliche Musik komponiert hat. Ich bin überzeugt, dass seine wahre Liebe der modernen italienischen weltlichen Musik gehörte. Seine Oper Tragicomedia von der Daphne handelt nicht von einem christlichen sondern - wie der Orpheo seines Meisters und selbstverständlich für die Renaissance - von einer Figur der griechischen Mythologie.

In keinem Fall geht es bei der Musik von Heinrich Schütz um Meditation und Wahrnehmbarmachung der kreativen Kraft. Darum kann es nicht gehen. Dafür sind die meisten Musiken zu kurz.

Schütz komponierte weltliche Lustbarkeiten, die er bei Monteverdi erworben hatte, im sakralen Raum, so als wäre er mit seinen Wünschen und musikalischen Sehnsüchten an der falschen Stelle gelandet. Sein geistliches Werk spiegelt zu großen Teilen die weltlichen Traditionen der Renaissance wider, wie sie sich nicht zuletzt auch aus okzitanischen Quellen speisten.

Ein paar Worte zu Luther: wie die meisten Kritiker der damaligen aus der Avignon-Situation entstandenen katholischen Hypertrophie wollte er keine neue Kirche sondern eine Reform derselben. Das ist eine solche Binsenweisheit, dass man sie mit hundertprozentigem Erfolg bei der Pisa-Studie hätte abfragen können. Das Projekt "Thesen an die Kirchentür" ist ihm entglitten. Seine Schriften zu Thomas Münzer belegen sehr präzise, wie sich bei Luther die Kritik an katholischer Willkür mischt mit seinem Gehorsam und seiner Unterwürfigkeit gegenüber der weltlichen Macht und mit seiner Bereitschaft zum Denunziantentum im Falle Thomas Münzer.

Der bedeutendste Philosoph dieser Zeit, Erasmus von Rotterdam, wollte die Bestrebungen Luthers nicht unterstützen, da er sich nicht in zu großer Nähe zu diesem von ihm nur bedingt geschätzten Mann wissen wollte.

Aber Eines verdanken wir dem Komponisten Martin Luther. Er soll - das weiß ich leider nur aus Erzählung - einmal gesagt haben, dass die einzige Musik, die für den Gottesdienst geeignet ist, die aktuell komponierte Musik sei. Die kreative Produktion statt historisierender Reproduktion ist im Blickwinkel des soeben Gesagten ein katholischer Standpunkt.

Diese angebliche Aussage Luthers klingt gut, wirft aber die Frage auf nach der Qualität der aktuell komponierten Musik.

Luthers Kirchenliedern ist eine gewisse Ausdruckskraft sicherlich nicht abzusprechen. Die Geschichte der Entwicklung der Musik selbst haben sie jedoch nicht sonderlich geprägt. Sie sind Ausdruck eines gemeindlichen Singens, gut gemachte Gebrauchsmusik.

Es geht dabei um Textverständlichkeit, um die aufklärerische Kraft des Wortes anstelle der Wahrnehmbarmachung der kreativen Kraft, dem gläubigen Menschen zur Stärkung.

Meine Damen und Herren, es geht um die Spiritualität. Wann öffnet sich das eigene Ich dem Geist, der in es fährt, es erfüllt und aus ihm singt und spricht?

Dies scheint mir eine wichtige - wenn nicht sogar die zentrale - Frage im Zusammenhang mit der Funktion von Kirchenmusik zu sein, denn ohne Spiritualität gerät der Glaube sehr rasch zur Sozialarbeit, die natürlich wichtig ist, aber auch von Nicht-Gläubigen erledigt werden kann.

Als Komponist bin ich somit selbstverständlich Gegenaufklärer, als politisch sich verantwortlich fühlender Mensch stehe ich selbstverständlich auf Seiten der Aufklärer. Die lutherisch evangelische Kirchenmusik machte nach meiner Ansicht den Fehler, beim Musikmachen einen Anspruch zu formulieren, der über die lutherische Gebrauchsmusik und das gemeinsame Singen hinausging. Sie verließ damit protestantische Grundsatzstandpunkte ohne wirklich in katholischer Qualität zu landen. Diese, wie ich finde, Unentschiedenheit entzieht ihr die Kraft, die sie eigentlich haben könnte: entweder die überzeugende Kraft des Wortes oder die Wahrnehmbarmachung der Kraft der Kreation. Wer auf halber Strecke zwischen diesen Möglichkeiten verharrt, gleicht einem Menschen der Musik lieber erzählt statt sie zu hören.

Als Komponist möchte ich Musik machen und auch Politik machen. Genau dieses bietet mir glücklicherweise meine derzeitige tägliche Arbeit, Musik durch Zelebration, Politik durch aufklärende Analyse.

Der Protestantismus ist da einigermaßen konsequent: er gibt dem Wort den Vorrang und vermeidet die Spiritualität der Musik.

Die katholische Musik des Mittelalters erklärt nichts, sondern stellt die Kraft der Kreation ins Zentrum des Geschehens.

Die katholischste der protestantischen Religionsrichtungen, die Lutherische Kirche, versucht die Vorteile des Protestantischen mit den machtpolitischen Vorteilen des katholischen Staatskirchendenkens zu verbinden und landet dabei aus meiner Sicht im Niemandsland.

Wir landen immer auf derselben Stelle des Universums. Wenn wir es übertreiben, kippt es. Die Mauern berstende Spiritualität der katholischen Gregorianik schlug über den Weg von Avignon um in die Eitelkeiten der Bischöfe, die sich von den Eitelkeiten des Sonnenkönig kaum noch unterschieden. Die aus bestem Grund dagegen gehaltene protestantische Enthaltsamkeit gerät manchmal zum Geiz, der in zwei Tüten Aldi-Tee und drei selbst gebastelten Strohsternen seinen vollkommenen Ausdruck findet.

Der Mensch ist das Maß aller Dinge, und er hat kein Maß!

Eines der beliebtesten Cantus Firmus Melodien der Renaissance Messen ist das weltliche Thema L'homme arme'. Diese Tatsache bedarf keiner Erklärung. Sie spricht für sich selbst.

Wir sprachen über Schütz. Nun sollten wir ein wenig über Bach, genauer gesagt: über Johann Sebastian Bach sprechen.

Scheinbar unangetastet stellt er den Höhepunkt der evangelisch lutherischen Kirchenmusik dar. Ist das wirklich angemessen? Seine Kantaten, die er in Zeiten der Selbstschindung wöchentlich als Meter-Ware verfasste, unter denen es zauberhafte Kompositionen gibt, bilden trotzdem nicht sein Hauptwerk. Bach ist vor allem berühmt für sein weltliches und dabei religiös empfundenes spekulatives Spätwerk, die Kunst der Fuge, das musikalische Opfer, die Goldberg Variationen etc. Die Matthäuspassion und die h-Moll-Messe erinnern nicht nur in ihren Dimensionen sehr an katholische Verhältnisse, besonders wenn man bedenkt, dass Bach vertraglich verpflichtet war, seine Musik für die Kirche so zu komponieren, „daß sie nicht zulang währen, auch also beschaffen seyn möge, damit sie nicht opernhafftig herauskommen, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere.“ Bach mag die Matthäuspassion persönlich als eine den Gottesdienst begleitende Musik gedacht haben, vielleicht auch als Ersatz für das ihm nicht gestattete Komponieren einer Oper. Die Praxis der späteren Aufführung aber zeigt, dass diese Passion weit über gottesdienstliche Praxis hinaus sich zu einem Konzertstück entwickelte, ganz gleich ob die Präsentation in einer Kirche oder in einer Konzerthalle erfolgte. Die gottesdienstliche Einbindung dieses dreistündigen Monumentalwerkes ist nach meiner Kenntnis die Ausnahme, was man gut verstehen kann, da dies mehr einer katholischen Zelebration kreativer Kraft entspräche, denn eines protestantischen Selbstverständnisses.

Bach ist so gesehen in erster Linie kein Kirchenkomponist. Interessant ist aber, wie das 19. Jahrhundert, das verzweifelt nach einem deutschen Säulenheiligen für die in vielerlei Hinsicht katholisch gebliebene lutherische Kirche suchte, Johann Sebastian Bach zu eben diesem erkor. Mendelssohn, der Transmitter, tat seinen Teil. Auch der beinahe ausschließlich alttestamentarische Elias des jüdisch-stämmigen, protestantisch getauften Mendelssohn wurde zum Liebling der evangelischen Kirchenmusik, obwohl es eigentlich gar keine Kirchenmusik ist. Neutestamentarische Umdeutungen, die Julius Schubring dem Text hinzulieferte, wurden von Mendelssohn, der Wert auf den alttestamentarischen Charakter des Werkes legte, kaum berücksichtigt. Die Uraufführung fand 1846 auf einem Musikfestival in Birmingham statt. Auch auf die Gefahr, dass mein nun folgendes Bekenntnis auf Ihr vollkommenes Unverständnis treffen sollte, komme ich nicht umhin mich an dieser Stelle zu positionieren: Für mich ist Mendelssohns Elias Play Bach des 19. Jahrhunderts. Ein hochbegabter Musiker tappte in die Falle seines eigenen Wohlstandes, der ihm die Seichtheit anempfahl.

So stellt sich allmählich - im Laufe der Geschichte - der Begriff Evangelische Kirchenmusik mehr und mehr als das Ergebnis einer Geschichtsklitterung dar. Immerhin war Schütz ihr Höhepunkt, aber dennoch war er kein Komponist, der die Musikgeschichte - wie z.B. seine Lehrer - in eine andere fruchtbringende Richtung geführt hätte. Er hat eine wunderbar kunstvolle Musik für die Kirche komponiert und den Deutschen Landen damit etwas gegeben, was die Meister der italienischen Renaissance und des Frühbarock geboren hatten.

Kurz gesagt: Die allumfassende katholische Kirchenmusik endete - wie bereits erwähnt - mit der Französischen Revolution.

Im Zusammenhang mit diesem Absturz rückten Musiker wie Schütz ins Zentrum der zur Verfügung stehenden Alternativen, lieferten dabei wunderbare Echos weltlicher Musik des katholischen Kulturraums mit evangelischen Texten. Wir erleben ein Parodieverfahren höherer Ordnung.

Wenn ich mir Heinrich Schütz vorstelle, so stelle ich ihn mir vor als einen leidenschaftlichen, sich an den von der katholischen Kirche tolerierten Freuden des Lebens sich ergötzenden Menschen, der mit all seinem kompositorischen Talent in der Askese des Potestantismus landete und guten Herzens versuchte aus diesem Dilemma heraus das Beste zu tun. Er tat es und schrieb schöne Musik. Er ist ein Beispiel für den Satz Thomas Manns "Alles, was künstlerisch da steht, steht da als ein Trotzdem".

Ich bin sicher: Im Herzen war Schütz Katholik, weil er ein Musiker war. Mit seinem Verstand, der mehr auf die politische Möglichkeit eines guten Lebens abzielt, war er vielleicht Protestant. Vielleicht war er aber auch nur Protestant, da diese Macht ihn ernährte.

Ein Musiker ist seinem Wesen nach ein Gegenaufklärer, ein Zelebrierer, ein erklärter Gegner des Protestantismus.

Ein politisch sich verantwortlich fühlender Mensch weiß, dass der Mensch nicht fähig ist zu einer solchen Spiritualität ohne Übergriffe zu begehen und steht daher lieber ein für die geistige Aufklärung.

Gute Musik ist in unserem Kulturkreis manchmal katholisch.
Gute Politik ist in unserem Kulturkreis oftmals evangelisch.

Das Katholische hat die Fähigkeit das Dasein zu erleben. Das Evangelische hat die Fähigkeit, das Dasein zu erklären, zum Preis, das manchmal man erklärt ohne noch zu erleben, in unüberwindlicher Traurigkeit.

Wir merken, dass wir uns im Laufe dieses Vortrags immer mehr von dem entfernen was der Gegenstand dieses Vortrags ist, nicht aber, weil wir etwa selbst uns entfernten, sondern, weil der Gegenstand selbst sich von uns entfernt. Die Katholische Kirchenmusik endete in einem lange seit der Frührenaissance währenden Suizid im harten Kontrapunkt zu den niederrauschenden Beilen der Guillotine. Die evangelische Kirchenmusik hat eigentlich nie wirklich in der Form existiert, in der sie uns seit dem 19. Jahrhundert von Seiten der Lutherischen Kirche präsentiert wird. Im besten Fall war sie ein Echo der katholisch inspirierten weltlichen Musik, im Nachhinein mittels Geschichtsklitterung der Geschichte gewaltsam implantiert. In ihrer besten Alternative zum katholisch Monumentalen war sie Gebrauchsmusik für das gemeinsame Singen zur Förderung eines gemeindlichen Zusammengehörigkeitsgefühls.

Dvorak sagte über die Musik von Johannes Brahms, der von der Kirche zeitweilig auch okkupiert wurde: "Wie kann mann nur so schöne Musik komponieren, wenn man an nichts glaubt".

Beethoven komponierte die Missa Solemnis und war selbst Pantheist. Sein Hauptwerk hat mit der Kirchenmusik nichts zu tun, so wie es bei Mozart, Bach und Haydn der Fall war. Das 19. Jahrhundert kreierte ein Bild von einer evangelischen Kirchenmusik, das jeder historischen Entsprechung entbehrt.

Im 20. Jahrhundert bezogen sich Distler, Pepping und einige Andere auf diese Chimäre und produzierten Musik, deren Qualität in keiner Weise der eines Heinrich Schütz und schon gar nicht der des zum Säulenheiligen erkorenen Johann Sebastian Bach entsprach. Die einstmals echt gemeinte Verweigerung gegenüber katholischer Theatralik schlug um in Freudlosigkeit und Sinnenfeindlichkeit und endlose Traurigeit, weil Einfallslosigkeit.

Was bleibt übrig?

Auf katholischer Seite gibt es zwar keine Kirchenmusik, aber immerhin religiös inspirierte Musik: Olivier Messiaen, ein Komponist von internationaler Bedeutung, - wohlgemerkt: kein Kirchenkomponist.

Auf evangelischer Seite gibt es in Deutschland nichts dergleichen.

Unser Heute:

Die Erde war wüst und leer....

Die evangelische Kirchenmusik - sofern man wie Luther ihre aktuelle Produktion zum Maßstab nimmt - ist eingefroren auf einen C-Dur Akkord mit schrabbelnder rechter Hand, gespielt auf einer Klampfe zum Refrain "Jesus macht dich glücklich, Jesus macht dich froh" auf dem evangelischen Kirchentag.

Die evangelische Kirchenmusik stellt sich in derartigen Übungen dar als ein Konglomerat aus vertrockneten Disteln und pathologisch anmutenden Zuckungen am Zupfinstrument. Es ist das Ergebnis jahrzehntelanger Anbiederung an den Common Sense innerhalb einer Industriegesellschaft.

Der protestantisch ausgeprägteste Komponist des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Helmut Lachenmann, hat keine Kirchenmusik komponiert.

Wenn wir von Erfolgsgeschichte reden möchten, so sollten wir benennen, zu welcher Zeit dieser Erfolg sich begründete. Schütz war ein erfolgreicher Komponist, weil er gute Musik adaptierte und dabei bis zum heutigen Tag gespielt wird, was mir aber eher ein Beweis für die heutige Nichtexistenz musikalischer Kreation zu sein scheint.

Ein finsteres Bild unserer Welt. Ich gebe es zu.

Da man aber in solcher Depression voneinander nicht scheiden sollte, möchte ich Ihnen von einer Hoffnung berichten, die ich im vergangenen Jahr erlebte und noch immer mit einer großen Freude erlebe: 건용, einer der bedeutenden koreanischen Komponisten, Anfang 70, der in großem Maße Musik für seine protestantische Kirche in Seoul komponiert. Er studierte nach seinen Studien in Seoul in Frankfurt bei Heinz Werner Zimmermann. In seiner Musik verbindet sich für mich protestantische Noblesse in ihrer höchsten Form mit der außergewöhnlich großen, tief expressiven Kraft der koreanischen Mentalität. Er hat unter anderem eine Passion of Jesus Christ nach Matthäus komponiert. Als ich das unvergessliche Vergnügen hatte, ihn im vergangenen Herbst kennenzulernen, stellte er mir die folgende Frage: "Hat sich Deine Musik geändert, als Du Direktor der Akademie geworden bist?" Ich verwies darauf, dass ich mehr statt weniger komponierte, da ich um als Komponist überleben zu können, viel disziplinierter zu arbeiten begann, morgens in aller Früh, da der Tag keine Zeit mehr versprach. 건용 entgegnete:"Das war nicht meine Frage. Ich würde gerne wissen, ob Deine Musik sich selbst geändert hat, ob sie anders zu klingen begann". Ich sagte, dass ich nicht richtig verstünde, worauf er hinaus wolle. Er sagte: "Meine Musik änderte sich, als ich Präsident des College of Music an der Seoul National University of the Arts geworden war. Meine Arbeit als Präsident führte mich aus meiner Komponierstube heraus zu den Menschen und ihren Problemen und Wünschen. Ich lernte viele Menschen kennen, die sich Musik wünschten. Da entschloss ich mich aufzuhören Musik für Komponisten zu schreiben. Ich begann damit Musik für die Menschen zu komponieren, die ich kenne und die sich Musik von mir wünschen. In meiner Kirchengemeinde brauchen die Menschen Musik, die für sie komponiert wurde. So schreibe ich Musik für diese Menschen, eine Musik, die sie je nach ihren vokalen und instrumentalen Möglichkeiten singen und spielen können. Diese Arbeit macht mir große Freude."

Das zu lösende Problem für Aufführungen solcher Vokalwerke in Deutschland ist die große Sprachbarriere.

Verehrte Damen und Herren, ich bin gerne bereit, falls Sie Interesse an dieser schönen protestantischen Kirchenmusik haben sollten, bei der Beschaffung der Noten sowie bei der Übersetzung der Texte behilflich zu sein.

Die Frage steht im Raum: Was kann man tun? Im multikulturellen Zusammenhang gibt es, wie wir sehen, Ansatzpunkte auf höchstem Niveau, die zugleich praktikabel sind.

Ich meine, dass die evangelische Kirche bezüglich ihrer Musik zunächst einige Entscheidungen treffen muss. Wozu soll die Musik sein? Will die Kirche ein Konzertort oder ein Ort des Gottesdienstes sein? Will sie das Wort der Erfahrbarmachung der kreativen Kraft über- oder unterordnen? Will sie sich auf das Gemeinschaft und Gemeinde stiftende Singen beschränken oder nicht? Will sie Luther folgen und ausschließlich aktuelle Musik spielen oder weiter wie die weltlichen Konzertsäle sich bei der Wahl der Musik retrospektiv verhalten? Will sie sich erneuern oder nicht. Wir sehen, dass in Ländern, in denen sich in jüngster Zeit die christliche Religion in großer Dynamik entwickelte, wie z. B. in Korea, neue Mischungen, neue Maßstäbe entstehen.

Octavio Paz formuliert in seinen Essays, dass eine Gesellschaft aus sich selbst heraus nicht ewig leben kann. Sie bedarf des erneuernden Synkretismus. In den vergangenen Jahrtausenden fand dies statt, leider meistens auf Grund von Krieg und Besatzung statt.

Heute vermischt sich die Welt auf Grund von Krieg und freiem Willen in gleichem Maße. Nutzen wir die Chance, die dieser Synkretismus uns bietet! Diese Gelegenheit ist die Gelegenheit unserer Zeit.

Der Dialog mit Komponisten aus anderen Kulturkreisen kann neue Wege eröffnen, nachdem man entweder geklärt hat, was man eigentlich will, oder nachdem man mit ihnen gemeinsam geklärt hat, wohin die Reise gehen könnte.

Ich danke Ihnen für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit und freue mich auf Ihre Ergänzungen, Einwände, vielleicht auch Protest, in jedem Fall aber auf eine angeregte Diskussion.